Fand vor zehn Jahren statt. Heute hätte ich dafür wahrscheinlich gar keine Energie mehr

Das Gefährlichste am Erwachsenwerden ist der Verlust der Wutausbrüche. Ich meine wilde, ungezügelte Wutausbrüche, mit wahnsinnigem Herumschreien, das in enthemmtes Schluchzen übergeht, schließlich in ein schwaches Wimmern. Den schlimmsten Wutausbruch meines Lebens hatte ich mit 16, als mir meine Eltern eine Party am Ostermontag verboten, mich traf das schwer, ich wollte einen Annäherungsversuch bei meinem damaligen Schwarm starten. Ich war mir sicher, dass mir meine Eltern mit diesem Verbot für alle Zeiten das Liebesleben zerstören würden. Irgendwann waren alle diplomatischen Mittel erschöpft – Gartenarbeits-Deals anbieten, Oma anrufen und um Unterstützung bitten. In Empörung über die Ungerechtigkeit blieb mir nur noch, beim Osteressen meinen Teller mit Rinderfilet und Möhrengemüse über den Esstisch zu kippen, begleitet von einem verzweifelten Urschrei. So schlimm war das damals.

Eine Sekunde später schämte ich mich natürlich entsetzlich, eigentlich hatte ich in meiner gefühlten Erwachsenheit längst erkannt, dass wütende Menschen gemeinhin nicht als impulsive Künstlertypen, sondern eher als Psychiatrie-reife Choleriker galten. Zum Glück fuhr ich einen Tag nach dem Wutausbruch auf Klassenreise nach Rom, bis ich zurück war, hatte sich meine Familie wieder einigermaßen von dem Osterauftritt erholt.

Es war mein allerletzter Wutausbruch. Fortan echauffierte, empörte, ereiferte ich mich über die großen und kleinen Widrigkeiten des Lebens, raus kam die Wut aber nicht mehr. Einige Wochen später färbte ich meine lila Haare zurück zu Blond.

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Mittlerweile frage ich mich, ob es wirklich so hilfreich ist, sich die Wutausbrüche abzugewöhnen. Dramatische Wutanfälle finden nur noch in amerikanischen Reality-TV-Shows statt, weil das Klischee verlangt, dass hysterische Frauen im Kampf um einen Mann schon mal mit künstlichen Fingernägelkrallen aufeinander losgehen. Das macht natürlich kein echter Mensch.

Wenn mich etwas aufregt, die Ungerechtigkeiten der Medienbranche im Allgemeinen zum Beispiel, dann rufe ich abends erst meine Mutter, anschließend meinen Freund an, mein Bruder, mit dem ich zusammen wohne, muss sich die Geschichte oftmals auch noch anhören. Nach der dritten Wiederholung bin ich meist so erschöpft, dass nur noch ein resigniertes, ungutes Grummeln hinter dem Brustbein übrig bleibt. Ich komme mir albern vor. Habe mir doch so vorgenommen, mich nicht mehr so aufzuregen. Nachts kann ich nicht schlafen und nehme eine Neurexan.

Vage erinnere ich mich noch, wie es sich früher anfühlte, nach einem Wutausbruch mit brennenden Augen auf dem Bett zu liegen, Nine Inch Nails oder Placebo zu hören, innerlich ganz leer. Es gab eine ganz kurze Zeitspanne zwischen dem Ende des Wutausbruchs und Beginn der Reue, in der man merkte – die Wut ist weg. Nicht verpufft, sondern abgearbeitet, rausgeschrien, mit knallenden Türen davon gejagt. Welcher erwachsene Mensch erlebt das noch, dass die Wut so schnell verschwindet? Ohne Yoga-Stunden, ohne Ernährungsumstellung, ohne Achtsamkeitstraining? Vielleicht gibt es sie wirklich, die Liebespaare, die sich erst Weingläser an die Köpfe schmeißen, fünf Minuten später Sex auf dem Küchentisch haben und anschließend händchenhaltend auf dem Sofa sitzen. Ich habe den Verdacht, dass es sich dabei eher eine Erfindung aus Frauenserien ist.

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Für Erwachsene wird die schnelle Wut doch viel zu oft zur nagenden inneren Unzufriedenheit – weil sie nicht raus kann. Das Floskel-Bollwerk, das jeden Wutausbruch im Keim erstickt: Gibt Wichtigeres, reg Dich mal nicht so auf, hast Du keine anderen Probleme. Die Wut bleibt drin, bei vielen zumindest, und richtet da mehr Unheil an, als wenn man im Affekt mal den Schrubberstiel zerstören würde. Deshalb ist es so gefährlich, dass man Wutanfälle verlernt. Und wer jetzt behauptet, eine Runde um den Block zu joggen habe den gleichen Effekt, kann noch nie einen echten Wutanfall gehabt haben, solche Leute solle es ja auch geben.

Mich würde mal interessieren, ob ich eigentlich noch Energie hätte für einen richtigen Wutausbruch. Oder ob ich nach einem halbherzigen Fußaufstampfer schon wieder bedauern würde, dass ich das Kayla-Itsines-Bikini-Body-Trainingsprogramm nach Woche zwei abgebrochen habe. Ohne Muskeln hat man keine Kraft für körperliche Anstrengungen. Und ein Wutanfall ist sehr anstrengend. Außerdem hätte ich ja kein Gegenüber, richtig ausrasten kann man ja nur vor jenen, die einem aus naturgegebener Liebe fast alles verzeihen. Meine Eltern leben leider 550 Kilometer weit weg. Ich würde also wie Rumpelstilzchen allein in meiner Wohnung vor mich hin poltern.

Stattdessen haue ich neuerdings abends manchmal auf meinem Klavier herum, Khachaturian, Brahms, ganz dramatische Sachen natürlich nur. Also, auf meinem E-Piano, mit Kopfhörern auf, damit sich die Nachbarn nicht gestört fühlen. Das ist eigentlich alles sehr bedauerlich.

Hattet Ihr früher auch schlimme Wutausbrüche? Kennt Ihr das gar nicht? Und wie reagiert Ihr Euch ab? Bitte lasst mich wissen, dass ich mit meiner gelegentlichen Wut nicht alleine bin – in den Kommentaren!