Ausrasten auf Kommando, wenn die Spice Girls laufen: Ich bin 26 und erlebe auf jeder Party die gleichen ironischen Partyexplosionen zu Retrohits. Was läuft da schief in meiner Generation?
Kürzlich besuchte ich eine Party von lauter Fast-30-Jährigen. Es ging ungeheuer erwachsen zu: Es gab ein Buffet mit selbstgemachter Quiche und gutem Wein und die Nachbarn von nebenan waren eingeladen, die vom Urlaub im Robinson-Club erzählten. Kurz fühlte ich mich wie in einem ZDF-Liebeskomödiendramolett, in dem sich attraktive Paare gegenseitig in ihre großzügigen Altbauwohnungen zu Dinnerpartys einladen, an hübsch dekorierten Tafeln sitzen, reichlich schmausen, auch die Frauen, und irgendwann Whiskey trinken – bis plötzlich herauskommt, dass der Mann von Christine seit Jahren ein Verhältnis mit Eva, der Frau seines Bruders, hat.
Zu solchen Enthüllungen kam es an diesem Abend nicht. Dafür sorgte einer der wenigen Single-Gäste, die dem Erwachsenenstalk etwa um halb zwei ein Ende bereitete – in dem sie ihr Handy an die von den Gastgebern extra für diesen Abend neu gekaufte Anlage anschloss und plötzlich „Wannabe“ von den Spice Girls ein wenig Putz vom Altbaustuck rieseln ließ.
Was dann geschah, habe ich in meiner bisherigen Partykarriereschon sehr oft erlebt. Alle anwesenden Mädchen, inzwischen Frauen, finden sich zu einem Tanzkreis zusammen und singen so laut und so quietschig wie möglich mit – „Iiiiiiiii’ll tell you what I want, what I really, really want“. Choreographisch wird der Song mit einer Mischung aus wilden Gesten (wie im Musikvideo halt!) und etwas Hinterngewackle und Vor-und Zurückgebeuge interpretiert.
Nach den Spice Girls sind sämtliche musikalischen Grenzen gesprengt. Für gewöhnlich kommen als Nächstes die Backstreet Boys dran, schließlich wird dem Trash Tür und Tor geöffnet, und zwar mit „Barbie Girl“ von Aqua sowie Eiffel 65 (kennen Sie nicht? Bitteschön, hier ein Ohrwurm: „Blue Da Ba Dee“. Kennen Sie doch, was?) Zur Erholung nach zwei Stunden Rumgehüpfe liegen sich dann alle verbliebenen Partygäste zu „Wonderwall“ von Oasis und „Jein“ von Fettes Brot in den Armen. Mitsingen geht übrigens immer, da spielt der Feierzerstörungsgrad keine Rolle.
„Es ist 1996…“ – den Rest kennt Ihr, oder? Fettes Brot mit „Jein“ aus dem Jahr 1996
Als ich 2008 mit der Uni anfing, waren Bad-Taste-Partys gerade sehr in. So lange geht das schon mit der lustigen, irgendwie ironisch gemeinten Partykracher-Musik, mit dem Ausrasten auf Kommando, sobald ein bereits 20 Millionen Mal gehörter 90er-Jahre-Song läuft. Und ja, auch ich mache bei den allgemeinen Party-Explosionen immer noch mit, wenn auch nach kurzem Zögern und Zaudern; ich will ja nicht, dass mich irgendjemand für einen langweiligen Partygast hält, ich bin nämlich sehr gut im Feiern. Ich stelle mich sogar in die Mitte vom Tanzkreis und mache „Genie in a bottle“-Moves.
Dennoch frage ich mich, wie oft Menschen in meinem Alter (ich bin 26) eigentlich noch zu den immer gleichen Liedern ausflippen können und wollen. Vor allem, weil die besten Hits der 80er und 90er, wie das bei Radiosendern heißt, noch nicht mal unsere besten Hits sind. Bei besagter Party schrie mir ein Freund irgendwann ins Ohr, „eigentlich sind wir doch viel zu jung für die Musik!“ Genau! Als die Spice Girls „Wannabe“ herausbrachten, war ich sechs Jahre alt; ich kann mich jedenfalls nicht aktiv an Posh Spice & Co. erinnern, eigentlich noch nicht einmal an die ersten Hits von Britney Spears. Als ich „jung“ war, waren Linkin Park, Shakira, 50 Cent und Greenday in den Charts, das habe ich extra noch einmal gegoogelt; allerdings läuft bei ironischen Partys höchstens mal „Candy Shop“.
Einer der größten internationalen Hits des Jahres 2005 – Shakira mit „La Tortura“:
Warum nur hat meine Generation keine eigenen Partyhits, die beim Feiern Erinnerungen an den ersten Absturz und nicht an den ersten Schultag wecken? Sind wir noch zu nah dran an unseren Teenietagen? Ist es uns peinlich, wenn die coolen, erwachsenen Freunde von heute mitkriegen, dass man bei „American Idiot“ den kompletten Text mitsingen kann und somit Rückschlüsse darauf zulässt, dass man vermutlich ein sehr wütender Jugendlicher war, der sich aus Weltschmerz mit lauter Musik im Kinderzimmer einschloss, bis die Eltern entnervt mit den Fäusten gegen die Tür wummerten?
Oder ist die Generation Y am Ende tatsächlich so verkorkst, dass sie nicht einmal über eigene Nostalgie-Songs verfügt und sich deshalb bei der Vorgänger-Generation, den MTV-lern, bedienen muss, um wenigstens ein zartes Gefühl der kollektiven, popkulturellen Identität herzustellen? Oder ist „Blue Da Ba Dee“ in seiner Bedeutung für die Kulturgeschichte bislang vollkommen unterschätzt worden und in Wahrheit kein nerviges Gedudel, sondern so etwas wie der Nachfolger von Mozarts „Kleiner Nachtmusik“??
Fragen über Fragen. Am Ende bleibt eine gute Party eine gute Party. Und trotzdem: Für die nächste Zusammenkunft in einer Altbauwohnung schlage ich ein neues, mal etwas abwechslungsreicheres DJ-Set vor: die besten Hits der Nullerjahre featuring Sugababes, Robbie Williams, Mattafix und Juanes. Mal sehen, wie viel Wein da nötig ist, bis alle mittanzen!
Artikel zuerst erschienen auf Artikel erschienen am 25.11.2016 auf welt.de/icon.
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