Handschlag, Umarmung oder Küsschen: Wie begrüßen und verabschieden wir uns? Die Generation Y hat ihre sozialen Codes nie richtig geklärt. Deshalb kommt es ständig zu peinlichen Missverständnissen. Artikel erschienen am 14.11.2016 auf welt.de/icon

Von den meisten sozialen Störungserscheinungen der Generation Y bekommt man ja zum Glück nicht viel mit. Ob fremde Menschen stundenlang ihre Krankheitssymptome googeln („Oh Gott, ich habe Kopfschmerzen, gutefrage.net sagt, das ist ein Hirntumor!“) oder ihre Tinder-Dates in letzter Sekunde per Whatsapp absagen („Sorry, bin krank, ist vielleicht ein Hirntumor!“), betrifft einen persönlich ja letztlich doch nicht so wahnsinnig. Denn all das ereignet sich im Geheimen von der heimischen Couch aus.

Erst beim Kontakt mit Menschen im echten Leben wird man damit konfrontiert, mit wem was nicht stimmt. Wer sich in welcher Situation als socially awkward, also als sozial ungeschickt, outet. Und sehr häufig zeigt sich genau das schon beim Erstkontakt mit Fremden – nämlich bei der Begrüßung.

Zumindest mir geht es so. Und ich behaupte, ich hoffe, dass ich nicht die Einzige bin, die regelmäßig mit Begrüßungsritualen zu kämpfen hat. Umarmen, Hände schütteln, Küsschen und wenn ja, wie viele, oder einfach gar nichts machen und nur „hallo“ sagen? Unzählige Missverständnisse und verunglückte Umarmung-nein-doch-nur-Handschlag-Situationen haben bei mir zu einer wahren Manie geführt. Bevor ich jemanden begrüße, der nicht zur Familie oder zum engsten Freundeskreis gehört, versuche ich stets folgende Aspekte abzuklären: Wie gut bin ich mit dieser Person befreundet? Oder sind wir nur Bekannte? Wie haben wir uns beim letzten Mal begrüßt? Da haben wir uns umarmt, aber das war so komisch, also lieber gar nichts machen diesmal? Aber dieser Mensch arbeitet in der Modebranche, vielleicht erwartet er oder sie die übliche Küsschen-Küsschen-Farce? Oh Gott, Hilfe, die Person kommt immer näher, was mach‘ ich nur!

In den wenigen Sekunden zwischen dem Erblicken des Gegenübers und der tatsächlichen Begrüßung können all diese Fragen natürlich nie hinreichend geklärt werden. Vor einigen Tagen erst war es wieder so weit bei mir: Ich traf auf einer Veranstaltung eine PR-Frau, mit der ich schon häufiger gemailt und telefoniert hatte, persönlich kannten wir uns noch nicht. Ich streckte die Hand aus, sie beide Arme – nach einigem Herumwedeln schließlich umarmten wir uns dann halbherzig, ohne uns wirklich zu berühren. Meine Unterarme touchierten dabei für Millisekunden ihre Oberarme, zusätzlich schob ich meinen Oberkörper leicht schräg nach vorn, die Schultern voraus. Stellt man sich schon so ungeschickt an, gilt es nämlich nur noch, wenigstens einen Zusammenstoß der Köpfe zu vermeiden. Zur Verabschiedung sagte jene PR-Dame: „Vorhin hab ich Dich ja etwas überfallen mit der Umarmung, aber jetzt kennen wir uns ja schon“, es folgte eine Neuauflage des sonderbaren Arme-Berührens. Wie gesagt, mir ist das schon öfter passiert; ein Freund meines Freundes sprach ihn neulich sogar besorgt darauf an, ob ich denn Angst vor Körperkontakt hätte, ich würde bei der Umarmung ja nie richtig zudrücken.

Nun gibt es in Deutschland ja tatsächlich keine soziokulturell fest verankerten Regeln, wie man sich im Privaten zu begrüßen hat. Zumindest kommt man unter jungen, etwa gleichaltrigen Menschen nicht weit mit Anstandsgesten, die man zu Hause gelernt hat („Es heißt ‚Guten Abend, Herr soundso‘ und nicht ‚hallo‘! Und jetzt gib mal schön die Hand!“). Es gibt einfach keine Regeln, an denen man sich orientieren könnte. In einigen südamerikanischen Ländern ist es zum Beispiel üblich, sich per einfachem Wangenluftkuss zu begrüßen, unabhängig von Alter, Geschlecht und Zuneigungsgrad. Macht man einfach immer so. Das ist einfach, daran kann sich jeder gewöhnen.

Die Deutschen hingegen sind in ihrer Identität offenbar so unsicher, dass sie es in den letzten Jahrzehnten sogar versäumt haben, ein System von gängigen Begrüßungsgesten aufzustellen. Dabei will man auf gar keinen Fall als steif und unnahbar gelten. Wer U35 ist und beim zweiten Treffen noch die Hand reicht, wirkt schon ein wenig merkwürdig; daher umarmt und knutscht man lieber mal jeden, auch, wenn derartige Zuneigungsbekundungen weit über das tatsächliche Vertrauensverhältnis hinausgehen.

Woran liegt es aber, dass Menschen im meinem Alter aus so einer alltäglichen Angelegenheit wie der Begrüßung ein riesiges Problem machen? Tatsächlich nur zum Teil an generationsspezifischen sozialen Unzulänglichkeiten – am Begrüßungsunbehagen ist auch die Globalisierung schuld.

In den bildungsbürgerlichen Milieus der Generation Y gehört es zum guten Ton, weit und viel gereist zu sein und die dabei angeeignete Weltoffenheit durch aus anderen Ländern übernommene soziale Codes zu demonstrieren. Und so schreiben Menschen plötzlich ein schwedisches „Hej!“ als Begrüßungsformel in Facebooknachrichten (harmlos) oder schmatzen bei jedem Treff ihre komplette Clique ab, wie sie das im Auslandssemester in Lille oder Buenos Aires gelernt haben (nicht mehr so harmlos, eher befremdlich).

Dieses Verhalten soll freilich interkulturelle Versiertheit ausdrücken; tatsächlich führt es zu Verwirrung. Und dazu, dass in manchen Freundeskreisen die Begrüßungsrituale öffentlich verhandelt und festgelegt werden müssen, was an social awkwardness ja schon fast nicht mehr zu überbieten ist. Denn damit wird ja gleichzeitig die Freundschaft an sich auf den Prüfstand gestellt: Sind wir wirklich so eng, dass wir einander ans Herz drücken? Mit einigen Freundinnen, die ich aus dem beruflichen Kontext kenne, wurde kürzlich vereinbart, dass wir uns bei privaten Treffen umarmen, sonst nicht.

In Anbetracht dieser ganzen Verwirrung kommt mir die angedeutete, distanzierte Umarmung als international verständliche Begrüßungs- sowie Verabschiedungsgeste ehrlich gesagt noch am erträglichsten vor. Ansonsten empfehle ich allen Menschen, die wie ich zum Thema Körperkontakt mit Halbfremden ein hanseatisch-zurückhaltendes Verhältnis pflegen, einen Trick, den ich mir jüngst zugelegt habe. Die größte Schwierigkeitsstufe in puncto Begrüßungen ergibt sich ja dann, wenn man eine ganze Gruppe vor sich hat, innerhalb derer man mit manchen vielleicht richtig gut befreundet ist, andere jedoch kaum oder gar nicht kennt, neue Liebespartner zum Beispiel. So, jetzt der geniale, elegante Trick, mit dem man herzlich und zugewandt und rein gar nicht wie ein sozial schwieriger Overthinker wirkt: Ich winke einfach aus der Ferne fröhlich in die Runde und rufe „Hallo Ihr alle, FÜHLT Euch gedrückt!“.

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